Web2.0 – oder Web 2.0? – oder Internet 2.0, der Buzzwords gibt es viele – wird kommen. Noch nicht dieses Jahr, aber 2006/7. Und zwar ganz gross. Auch hier in Deutschland. Ganz ohne Ironie, ich meine das Ernst. Denn Web 2.0 hat endlich, endlich wieder alle Zutaten, die es braucht, um ein Thema wirklich gross zu machen. Es hat, im Umkehrschluss, alles, was Blogs nicht haben.

Denn Blogs haben sich bislang in Deutschland nicht als wirtschaftlich relevantes Thema durchgesetzt. Die Anzahl und Nominierung von Businessbloggern offenbahrt ihre weitgehende Nichtexistenz. Grossartige Versuche grossartiger, netzaffiner Firmen waren nicht allzu erfolgreich, und die Bemühungen und vorgeblichen Nettigkeiten diverser Medien waren mutmasslich auch nicht so, dass der fetten Geldströme Schar das finanzielle Jammertal der Medien geflutet hätten. Es gibt zwar ein paar kommerzielle Projekte und auch manches mehr oder weniger redliches Bemühen, aber keinen erkennbaren Durchbruch als Geschäftsmodell. Dazu sind die Nutzerzahlen kaum ausreichend.

Und da sind noch ein paar andere Hinweise, dass es so doll doch nicht ist: Wenn bei Vorträgen die Räume halb leer bleiben, wenn Seminare angeblicher Blogberater abgesagt werden müssen, wenn Consult-Hinz und Buzz-Kunz das Thema für sich entdecken, aber bei genauen Nachfragen ausserhalb des Freundeskreises keine Referenzkunden vorweisen können. Jubelpostillen gibt es nicht, auch Buchveröffentlichungen halten sich in engen Grenzen. Ich habe die Zeit der New Economy miterlebt, ich kenne die Stimmung und die Kraft, die die Menschen im Hype beherrscht, und von dieser emotionalen Verblendung ist das Wirtschaftsthema Blogs weiter entfernt als ein PRolet von der Einsicht, dass er während der Börsenblase nichts als gelogen hat.

Zurecht, wie ich meine. Das Wachstum der deutschen Blogs ist gut, aber nicht so grandios, dass es Investoren begeistern muss. Zwar hat 20six Geld von einem VC bekommen – nur ist das die U.C.A., die manchem vielleicht noch durch mitunter recht schnellen Veränderungen im Portfolio in Erinnerung ist. Auch Sixapart (Typepad, Livejournal und Movable Type) ist in den USA VC-finanziert, hat es hierzulande aber nicht wirklich leicht. Hypezahlen wie 250.000 Blogs in Deutschland, die immer wieder mal die Runde machen, übersehen schnell, wie wenige davon aktiv sind. Und die Userzahlen sind von ein paar wenigen Ausnahmen abgesehen nicht allzu bedeutend. Tragfähige Geschäftsmodelle sind nicht in Sicht. Blogs haben in Deutschland einen öffentlichen Parallelraum zu den herkömmlichen Medien geschaffen und sind dabei, nachhaltigen Einfluss auf die Debatte um Infornationsvermittlung auszuüben. Jenseits der wirtschaftlichen Aspekte läuft es blendend – nur all die Businessblogger und Hypeschreier und andere Restobszönitäten der New Economy, die in die Blogosphäre geschwappt sind, sitzen ziemlich auf dem Trockenen.

Und in dieser Situation kommt jetzt Web 2.0. Wie der Name schon sagt, wird hier nicht der Fehler begangen und ein völlig neues Branding verwendet. Mit “Web” kann jeder Investor was anfangen, und das 2.o ist in seinem dummen Fortschrittsglauben die ideale Projektionsfläche für jede Erwartung an die Zukunft. Tatsächlich fällt es im Moment schwer, im Bereich der Internetsoftwareentwicklung für Consumer etwas zu finden, was nicht irgendwo als 2.0 bezeichnet würde. Die sich mitunter als “Evangelist” bezeichnenden Promoter heben besonders die sozialen Aspekte hervor; Web 2.0 sei gewissermassen die Rückkehr des Internets zu seinen Wurzeln vor der New Economy. Was Kulturhistoriker an das Bemühen gewisser Herrscher erinnert, Legitimitatsprobleme durch gefälschte Stammbäume aufzuhübschen, hat tatsächlich so seine Ursachen: Viele der jetzt unter dem Banner Web 2.0 segelnde Herrschaften hatten ein intensives Vorleben in der geldgierigen, dummdreisten New Economy. Ein Rückgriff auf Ideale, die sie 1999 in die Tonne getreten haben, ist da genauso logisch wie das “Ich liebe Euch doch” vom Stasi-Mielke, wenngleich ein wenig geschickter vorgebracht.

Kurz, bei Web 2.0 erleben wir zumindest personell eine Neuauflage vom bisherigen Web 1.0. Ideell – nun, da müsste man diesen Leuten sowas wie “Lernfähigkeit” zugestehen, was mir als Kulturhistoriker beim Blick auf die allgemeine Menschheitsgeschichte etwas schwer fällt. Generell führt der Schrei nach einem radikalen kulturellen Bruch, den Web 2.0 im Kern darstellt, selten zur Verbesserung der allgemeinen Lage. Wenn es gelingt, stehen wenige Profiteure vielen Verlierern gegenüber, wenn es scheitert, stehen die Möchtegernprofiteure mit dem Rücken zur Wand und vor ihnen ein Exekutionskommando. Nun ist das Web zum Glück rein virtuell, Blut wird da kaum vergossen, aber schon beim Scheitern der New Economy standen viele Revoluzzer am Ende mit leeren Händen da. Aber natürlich, nachdem diesmal alles so social softwarig sein wird, kann es ganz anders kommen.

Das ist gewissermassen das erprobte Personal und die alles umfassende Good News. Ein Netz umfasst alles, sozial will auch jeder sein, und warum 1.0, wenn es auch 2.0 gibt. In dem neuen, umfassenden System haben sie Blogs auch schon ihre neue Rolle zugewiesen bekommen, als persönliche Homepage 2.0., zentral für den Einzelnen als Mitteilungskanal, aber eben doch mit sehr begrenzter Funktion und beileibe nicht ausreichend für die Fülle an Möglichkeiten, die da auf uns zukommen. Im Gegenteil, mit RSS wird das Blog als Website für die Leser eher marginalisiert, und dafür steigt dann eben RSS als neuer, umfassender Infokanal auf.

Ich halte das nach dem momentanen Stand der Dinge für PSB, plain simple bullshit, aber: Es spielt keine Rolle. Selbst wenn es die entsprechenden Investoren als Bullshit erachten, wird es kommen. Da spielt es keine Rolle, ob Picasa aus den Trümmern eines VCs kam, ob Google Blogger für ein Butterbrot kaufte, AOL Weblogs Inc nur schluckte, um seine davonfliegenden Nutzer einzufangen oder Initiatoren des Hypes wie Friendster oder Orkut am Boden sind. Weitaus wichtiger sind die möglichen Synergien, die die vermeintlichen Schlüsselrechnologien zusammen bringen. Wer heute einsteigt, kann das entscheidende Bröckchen Web 2.0 haben, das die späteren Grossen brauchen werden, um sich einen Vorsprung zu verschaffen. Wer jetzt schnell wächst und begeisterte Anhänger hat, wird später hoch bewertet sein. Das Wachstum der Blogs alleine ist nicht sexy, aber das kombinierte Wachstum mehrerer Applikationen ist das, was Investoren feuchte Höschen macht – eben Web 2.0. Synergie ist das Wort der Stunde.

Es ist das gleiche erbärmliche Rattenrennen wie bei der New Economy 1.0, ohne das VCs nicht mitspielen werden. Sie werden mitspielen, nicht weil sie daran glauben, sondern weil sie untergehen, wenn sie nicht mitspielen. In spätestens ein, zwei Jahren müssen die VCs wieder Geld für ihre auf 10 Jahre angelegten Fonds einsammeln. Bis dahin müssen sie nachweisen, dass sie ihre vom Hype immer noch prall gefüllten Geldsäcke irgendwo sinnvoll investiert haben, sonst haben sie keine vorzeigbare Performance und sind nicht im “Upper Quarter” der Rendite. kein Upper Quarter, kein frisches Geld. Um das zu erreichen, lohnen sich kurzfristige Investments in winzige Softwareklitschen, weil sie geringe Folgekosten haben und angesichts der Virtualität der Produkte fast nach Belieben zu bewerten sind. Das geht besonders gut, wenn alle Magazine tolle Dinge über das Web 2.0 schreiben, und das werden sie – auch dafür steht schon die Staffage in Deutschland bereit, denn Web 2.0 wird per se der Spitzenaufhänger, der dem Thema Blogs so oft fehlt. Web 2.0 ist die beste Chance für die Ãœberbleibsel der New Economy, es nochmal zu packen, nach 5 oder 6 Jahren im Jammertal.

Allein deshalb wird es kommen, und deshalb tauchen bei vielen Leuten jetzt diese neuen Buzzwords auf. Ein PR-Blogger bemängelt plötzlich mangelndes Verständnis für Web 2.0 bei den Journalisten, sein Kumpel macht ein Blog für Web 2.0 auf, und im Winter werden wir bei Spreeblick Johnny einen Kongress zum Thema erleben, der als Startpunkt gelten wird. Kurz, da wird es einen Riss durch die Blogosphäre geben, und manche werden das Blog nur noch als Teil einer grösseren Sache, ihrer virtuellen Egosphere auffassen – man sehe mir die fehlenden Links zu den entsprechenden Scharlatanen nach, itŽs not my business to promote their buzz. Bezeichnenderweise taucht bei denen das Wort “kulturell” nicht auf, kulturell ist für sie keine Grösse. Es liesse sich aber trefflich darüber streiten, ob das Erfolgsmodell Bloggen nicht eine kulturelle Komponente hat, die die soziale “social” Komponente dominiert. Diese massenhaft genutzte kulturelle Komponente der Blogs ist nach meiner Beobachtung allerdings etwas, das es weder im Ursumpf des Netzes so ausgeprägt oder in der New Economy überhaupt gegeben hätte.

Ist das jetzt alles etwas kryptisch? So ganz durchdacht habe ich es auch nicht, aber nach meiner Erfahrung wird sich der Riss zwischen Blogosphäre und Web 2.0 dort bilden, wo die Erkenntnis der Kultur aufhört (und, siehe Projekte wie Exot wo das Kulturelle total dominiert). Ausnahmen wird es immer geben, Leute, die auf beiden seiten des Risses gleich eloquent und befähigt sind. Entscheidend aber ist, dass sich eine gewisse Gruppe von Leuten schon heute unter dem label Web 2.o auf den Weg in eine andere Konzeption von Persönlichkeitsmanifestation im Netz macht, die nur noch am Rande mit Blogs zu tun hat. Weil sie für sich dort den eigentlichen Profit sehen; nehmen wir mal einen Überwachungsstasifreak, der wird begeistert sein, wenn statt Worten plötzlich auch Ton und Bild zu observieren sind.

Allein die vorgebliche Dynamik von Web 2.0 wird dann seine Evangelisten auch zwingen, das langsam wachsende, sich kaum verändernde Bloggen als etwas Zurückgebliebenes wahrzunehmen. Tatsächlich passiert ja nicht viel Weltbewegendes in der Blogospäre, die ihre Kraft und Energie aus dem Alltag bezieht; wenn das PR-oletariat heute über Schneeballeffekte spricht, haben sie seit fast einem Jahr nichts anderes zu bieten als den einzigen Jamba-Fall bei Spreeblick. Das ist nichts im Vergleich zu all den schnellen Stories, die Web 2.0 liefern kann. Die kläffenden Hunde werden weiterziehen in die Wüste Richtung Fata Morgana 2.o – die Blogkarawane wird grösstenteils an der Oase bleiben. WeilŽs hier schön ist, und weil man ohne die nervenden Buzzköter in Ruhe vielleicht ja auch mehr hinbekommt als nur die lockere Clangesellschaft.

Zum Beispiel eine Kultur.